Migrations-Abstimmung führt zu Eklat – AfD feiert
Veröffentlicht: Mittwoch, 29.01.2025 19:43
Bundestagswahlkampf
Berlin (dpa) - Eine Woche nach der Messerattacke von Aschaffenburg hat die Union mit Stimmen der AfD einen Bundestagsbeschluss für einen härteren Migrations-Kurs durchgesetzt - und damit für einen beispiellosen Eklat gesorgt. Er dürfte auch den weiteren Wahlkampf bis zum 23. Februar maßgeblich bestimmen. Was dieser Tag für die Regierungsbildung nach der Wahl bedeuten wird, ist noch offen.
SPD und Grüne warfen der Union vor, die politischen Mitte verlassen zu haben und machten CDU-Chef Friedrich Merz persönlich dafür verantwortlich. Nach einem solchen Votum, dürfe man «nicht so einfach zur Tagesordnung» übergehen, sagte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich.
Merz bot SPD und Grünen neue Verhandlungen an und versicherte, «keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte unseres Parlaments» zu suchen. Er fügte hinzu: «Wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das.»
AfD sieht Beginn einer «neuen Epoche»
Die AfD-Fraktion sprach von einem historischen Moment. «Herr Merz, Sie haben geholfen, den hervorzubringen», rief Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann dem CDU-Chef zu. «Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche. Jetzt beginnt etwas Neues. Und das führen wir an, das führen die neuen Kräfte an, das sind die Kräfte von der AfD.»
Der Bundestag hatte zuvor einem Unions-Antrag mehrheitlich zugestimmt, der mehr Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen vorsieht. Für den Antrag stimmten 187 Abgeordnete der Union, 75 AfD-Abgeordnete sowie 80 Angehörige der FDP-Fraktion sowie 6 Fraktionslose. Zusammen sind das 348 Stimmen. 344 Abgeordnete waren dagegen, zehn enthielten sich. Der Antrag hat keine bindende Wirkung, der Beschluss aber eine hohe Symbolkraft.
Die AfD applaudierte nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses. SPD, Grüne votierten geschlossen mit Nein, ebenso wie die Gruppe Die Linke. Das BSW enthielt sich. Ein zweiter Antrag der Union mit umfassenden Reformvorschlägen für eine restriktive Migrationspolitik und zusätzliche Befugnisse der Sicherheitsbehörden wurde mehrheitlich abgelehnt. Beide Anträge sind rechtlich nicht bindend.
Mützenich: «Nicht so einfach zur Tagesordnung» übergehen
Die Sitzung wurde nach der Abstimmung unterbrochen. In der vorangegangenen Debatte hatten sich Kanzler Olaf Scholz und Merz einen heftigen Schlagabtausch, vor allem über den Umgang mit der AfD, geliefert. Der SPD-Kanzlerkandidat Scholz warf Merz vor, die klare Abgrenzung zu extrem rechten Parteien aufzugeben. «Sie nehmen die Unterstützung der AfD für Ihre rechtswidrigen Vorschläge offen in Kauf», sagte er an die Adresse des Oppositionsführers in seiner Regierungserklärung.
Scholz mutmaßte auch, die Union könne nach der Wahl eine Koalition mit der AfD eingehen. Merz wies das in seiner Antwort auf den Kanzler als «niederträchtig» und «infam» zurück. «Ich werde alles tun, das zu verhindern.» Der CDU-Chef bekräftigte dennoch, dass er für die Durchsetzung seiner Vorschläge zur Migration die Zustimmung der AfD in Kauf nimmt. Das sei ihm lieber, als «weiter ohnmächtig zuzusehen, wie die Menschen in unserem Land weiter bedroht, verletzt und ermordet» werden.
Weidel nennt Regierungserklärung «ungeheuerlich»
Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel wandte sich sowohl gegen Scholz als auch gegen Merz. Die Regierungserklärung nannte sie «ungeheuerlich» und warf Scholz «autoritäres» Denken vor. «Das ist Demokratie ohne Volk, das ist Demokratie ohne Wähler», sagte sie. Die Migrationspolitik der Regierung nannte sie einen «politisch motivierten Kontrollverlust». Die sogenannte «Brandmauer» gegen die AfD sei ein Hebel, um den Wählerwillen auszuschließen.
Der Union warf Weidel vor, die Vorschläge zur Eindämmung der Migration von der AfD abgeschrieben zu haben. Als Sitzungsleiterin Katrin Göring-Eckardt verkündete, dass die Mehrheit für den Antrag zu den Zurückweisungen erreicht wurde, umarmten und beglückwünschten sich die Abgeordneten der AfD.
Nach Aschaffenburg nur noch zwei Wahlkampfthemen
Ausgangspunkt für die aktuelle Migrationsdebatte war der Messerangriff von Aschaffenburg mit zwei Toten, der vor einer Woche den Bundestags-Wahlkampf komplett umkrempelte. Ein offenbar psychisch kranker Mann aus Afghanistan soll zwei Menschen getötet haben, darunter einen zweijährigen Jungen mit marokkanischen Wurzeln aus einer Kindergartengruppe, und weitere schwer verletzt haben. Der 28 Jahre alte Tatverdächtige war ausreisepflichtig.
Seitdem wird im Wahlkampf überwiegend über Migration und den Umgang mit der AfD gestritten. Die Union sieht sich durch den Fall in ihrer Forderung nach einer massiven Verschärfung des Vorgehens gegen irreguläre Migration bestärkt. Merz sagte im Bundestag, das sei man den Opfern schuldig. Die rot-grüne Minderheitsregierung sieht das Problem eher bei der Umsetzung der bestehenden Regeln durch die zuständigen Behörden. Sie hält die Vorschläge der Union für rechtswidrig.
Scholz: «Ein Bundeskanzler darf kein Zocker sein»
Scholz sprach Merz die Regierungsfähigkeit ab, weil er Pläne vorlege, die dem Grundgesetz und dem EU-Recht widersprächen. «Es gibt Grenzen, die darf man als Staatsmann nicht überschreiten», sagte er. «Politik in unserem Land ist doch kein Pokerspiel. Der Zusammenhalt Europas ist kein Spieleinsatz. Und ein deutscher Bundeskanzler darf kein Zocker sein. Denn er entscheidet im schlimmsten Fall über Krieg oder Frieden.»
Merz wies den Vorwurf der Rechtswidrigkeit klar zurück. Der EU-Vertragsartikel 72 eröffne dem nationalen Recht den Vorrang bei einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sagte er. «Wie viele Kinder müssen noch Opfer solcher Gewalttaten werden, bevor sie auch der Meinung sind, dass es sich hier um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung handelt?», fragte er. Zudem sei im Artikel 16a des Grundgesetzes ausdrücklich geregelt, dass sich nicht auf das Grundrecht auf Asyl berufen könne, wer aus einem EU-Mitgliedstaat oder einem Land einreise, in dem die Europäische Menschenrechtskonvention gelte.
Scholz: Merz hat Grundkonsens der Demokraten aufgekündigt
Noch schärfer wurde der Schlagabtausch beim Thema AfD. Die Union toleriere die Unterstützung derer, «die unsere Demokratie bekämpfen, die unser vereintes Europa verachten, die das Klima in unserem Land seit Jahren immer weiter vergiften», sagte Scholz. Dies sei ein «unverzeihlicher Fehler». Seit Gründung der Bundesrepublik vor über 75 Jahren habe es immer einen klaren Konsens aller Demokraten gegeben, mit extremen Rechten nicht gemeinsame Sache zu machen, sagte Scholz. «Sie haben diesen Grundkonsens unserer Republik im Affekt aufgekündigt», warf der Kanzler seinem Herausforderer vor.
Merz verwies darauf, dass alle Versuche, mit SPD und Grünen zu einem Konsens in der Migrationspolitik zu kommen, in den letzten drei Jahren gescheitert seien. Nun wolle er «aufrechten Ganges das tun, was unabweisbar in der Sache notwendig ist». Dafür nehme er auch Bilder von jubelnden AfD-Abgeordneten in Kauf, auch wenn diese «unerträglich» sein werden.
Kirchen befürchten «massiven Schaden» für die Demokratie
Vor Beginn der Debatte gedachten die Abgeordneten der Opfer von Aschaffenburg. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas mahnte eine faire Diskussion an. Unmittelbar vor der Abstimmung stellten sich die beiden großen Kirchen mit ungewöhnlich scharfen Worten gegen den Unions-Kurs. Die Fraktionen hätten sich mit der Auflösung der Ampel-Koalition verständigt, keine Abstimmungen herbeizuführen, in der die Stimmen der AfD ausschlaggebend seien, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Berliner Vertreter der katholischen Bischöfe und des Rats der Evangelischen Kirche. «Wir befürchten, dass die deutsche Demokratie massiven Schaden nimmt, wenn dieses politische Versprechen aufgegeben wird.»
Demonstration vor CDU-Zentrale
Vor der CDU-Parteizentrale in Berlin demonstrierten am Abend mehrere hundert Menschen gegen das gemeinsame Abstimmen von Union und AfD für eine schärfere Migrationspolitik im Bundestag demonstriert. Zu der Kundgebung unter dem Motto «Brandmauer statt Brandstiftung» hatten unter anderem Amnesty International, Seebrücke und andere Organisationen aufgerufen. Die Polizei sprach zunächst von rund 650 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.