Fall Solingen und die Folgen - NRW-Regierung in der Krise
Veröffentlicht: Dienstag, 12.11.2024 11:00
Im NRW-Landtag soll ein Untersuchungsausschuss aufarbeiten, wie es zum islamistischen Anschlag von Solingen kommen konnte.
Es gibt viele Fragen, Ungereimtheiten und eine Landesregierung, die massiv unter Druck geraten ist. Im Mittelpunkt stehen zwei Kernfragen. Fast immer, wenn NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst etwas über den Anschlag von Solingen sagt, verwendet er den Begriff "Wendepunkt". Dieser Akt des Terrors markiere ebendies einen Wendepunkt. Gemeint ist damit, dass sich in der Sicherheits-, Migrations- und Präventionspolitik viel ändern müsse. Entsprechend griffig und prägnant lesen sich die Maßnahmen, die Wüst wenige Tage nach dem Anschlag mit seinem Kabinett verabschiedet hat und die er zum Teil schon in den Bundesrat eingebracht hat, weil sie Bundesgesetze betreffen.
Solingen-Anschlag: Landesregierung im Krisenmodus
Zur Wahrheit gehört aber, dass der Solinger Anschlag auch in der Arbeit der Landesregierung einen Wendepunkt markiert: Bis zu jenem Freitagabend des 23. August, an dem mutmaßlich der 26-jährige Flüchtling Issa Al H. auf dem Solinger Stadtfest mit einem Messer drei Menschen tötete und zahlreiche weitere teils lebensgefährlich verletzte, glich Wüsts schwarz-grüne Landesregierung einer stabilen Dampferfahrt auf ruhiger See. Seit dem 23. August ist alles anders: Die gemächliche Routine ist dem Krisenmodus gewichen. Der Fall Solingen ist die erste große Krise für die schwarz-grüne Landesregierung von Wüst.
Gescheiterte Abschiebung - vieles lief schief: Die Chronik
- Der mutmaßliche Täter sollte lange vor dem 23. August abgeschoben werden. Doch dies scheiterte - vor allem an den Wirren der Bürokratie. Fakt ist: Issa Al H. hätte schon vergangenes Jahr aus Deutschland nach Bulgarien überstellt werden sollen. Doch Behördenversäumnisse auf mehreren Ebenen und fehlende Flugmöglichkeiten führten dazu, dass er im Land blieb.
- Laut einer Übersicht des nordrhein-westfälischen Flüchtlingsministeriums, stellt Issa Al H. Ende Januar 2023 einen Asylantrag bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - kurz "Bamf" - in Bielefeld. Dabei wird festgestellt, dass er schon einen Antrag in Bulgarien gestellt hatte.
- Am 7. Februar 2024 stellt das Bamf gemäß der Dublin-Regeln der EU ein Übernahmeersuchen an Bulgarien, dem Bulgarien am 20. Februar zustimmt. An diesem Tag beginnt eine sechsmonatige Frist für die Rückführung. Untergebracht wird Al H. in einer Notunterkunft des Landes in Paderborn.
- Am 16. März 2023 ordnet das Bamf die Überstellung nach Bulgarien an. Für die Durchführung ist die Zentrale Ausländerbehörde - kurz ZAB - in Bielefeld zuständig. Eine ZAB arbeitet für das Land NRW, wird aber vom Bamf beauftragt.
- Am 21. März 2023 meldet die ZAB den Flug nach Bulgarien bei der zuständigen Zentralstelle für Flugabschiebungen NRW an. Am 5. Juni 2023 um 2:30 Uhr soll der Zugriff in der Notunterkunft erfolgen, um Al H. nach Düsseldorf zu bringen. Von dort ist der Abflug um 7:20 Uhr geplant. Doch Al H. ist nicht anzutreffen - dabei war er am 4. Juni noch da und taucht am 5. Juni tagsüber auch wieder dort auf.
Solingen-Attentäter: Kein weiterer Rückführungsversuch
Ob er gewarnt wurde, ist nach derzeitigem Stand unmöglich zu sagen. Die zentralen Ausländerbehörden kündigen Überstellungen laut Ministerium nicht vorab an. Laut NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul war der Mann nicht untergetaucht. Wäre er untergetaucht, hätte das Bamf die Überstellungsfrist auf 18 Monate verlängern können.
Die Behördenvertreter durften 2023 nach damaliger Gesetzeslage noch nicht andere Räume der Flüchtlingsunterkunft durchsuchen. Dass Issa Al H. wieder aufgetaucht ist, meldet die Leitung der Notunterkunft Paderborn nicht an die ZAB Bielefeld. Das ist laut Ministerin Paul zwar ein Versäumnis, aber es gab auch keine entsprechende Vorschrift.
Die ZAB wiederum unternimmt keinen weiteren Versuch, einen neuen Flug für Al H. nach Bulgarien anzumelden. Möglicherweise ging die ZAB davon aus, dass innerhalb der bis zum 20. August laufende Rückführungsfrist sowieso kein Flug mehr zu bekommen gewesen wäre. Für die Rückführungen gelten strenge Regeln. Sie werden jeweils von den EU-Ländern aufgestellt, in die die abgelehnten Asylbewerber überstellt werden sollen.
Im Fall Bulgarien dürfen Abschiebeflüge nach Angaben des NRW-Flüchtlingsministeriums nur von Montag bis Donnerstag zwischen 9 und 14 Uhr ausschließlich in der Hauptstadt Sofia landen. Eine Überstellung auf dem Landweg ist ebenso wie ein Charterflug nicht erlaubt. Eine Airline darf maximal zwei abzuschiebende Personen pro Flug befördern. Damit sind dem Ministerium zufolge für alle 16 Bundesländer theoretisch nur etwa zehn Abschiebungen pro Woche nach Bulgarien möglich.
Issa Al H. wird nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist vom Bamf ins nationale Verfahren übernommen, das heißt, sein Asylantrag wird vom Bamf geprüft. Ende August 2023 wird Al H. nach Solingen überwiesen. Am 13. Dezember wird ihm durch das Bamf sogenannter subsidiärer Schutz zuerkannt. Damit geht die ausländerrechtliche Zuständigkeit von der ZAB auf die kommunale Ausländerbehörde über.
Ministerin spricht von Fehlern im System
In einer Sondersitzung im Düsseldorfer Landtag macht Nordrhein-Westfalens Flüchtlingsministerin Josefine Paul für die gescheiterte Abschiebung Defizite der EU-Vorschriften und ein "fehleranfälliges System" mitverantwortlich. Bundesweit gelängen nur 10 bis 15 Prozent der sogenannten Dublin-Überstellungen. Bundes-, Landes- und kommunale Behörden hätten täglich mit ähnlich gelagerten Fällen zu tun, sagt Paul und räumt ein: "Es ist unsere Verantwortung, jetzt aufzuklären und aufzuarbeiten, und es ist auch meine Verantwortung [...]".
Tatsache sei, dass fehlgeschlagene Überstellungen eher die Regel als die Ausnahme seien.
Opposition verstärkt Druck auf Josefine Paul
Die Flüchtlingsministerin gerät dabei politisch immer mehr unter Rechtfertigungsdruck. Die drei Oppositionsfraktionen SPD, FDP und AfD fahren gegen die Grünen-Politikerin schwere Geschütze auf.
Hauptvorwürfe gegen die 42-Jährige: Obwohl Paul die Rückführungen abgelehnter Asylbewerber in andere EU-Staaten als "dysfunktionales System" schildere, habe sie vor dem Anschlag nichts dagegen unternommen. Außerdem werfen SPD und FDP ihr vor, sich nach der tödlichen Messer-Attacke tagelang nicht gerührt und auch nicht nach Solingen gefahren zu sein.
Josefine Paul unter Druck: Wo war die zuständige Ministerin?
Nicht der Attentäter sei abgetaucht, sondern die zuständige Ministerin, kritisiert beispielsweise FDP-Politiker Marc Lürbke. Auch andere Oppositionspolitiker werfen der Ministerin vor, sich erst vier Tage nach dem Anschlag erstmals geäußert zu haben.. Paul sagt, sie sei am Sonntag bei einer Gedenkfeier in Frankreich aus Anlass des 80. Jahrestags der Zerstörung eines französischen Ortes durch die Wehrmacht gewesen. Sie habe die Reise dann aber abgebrochen und sofort mit der Aufklärung des Sachverhalts begonnen.
NRW-Innenminister Herbert Reul war noch in der Tatnacht aus seinem benachbarten Wohnort nach Solingen geeilt und danch vor Ort und in den Medien praktisch tagelang rund um die Uhr präsent.
NRW-Ministerpräsident Wüst hält zu Paul
Ministerpräsident Wüst stärkt seiner Flüchtlingsministerin den Rücken. Während einer Sondersitzung des Landtags, wenige Tage nach dem Anschlag, sagt er, er sei dankbar, dass Ministerin Josefine Paul den Sachstand umfassend gegenüber Parlament und Öffentlichkeit berichtet habe. Sie habe bereits erste Versäumnisse benannt und zugleich Verbesserung veranlasst.
Gleichzeitig verspricht Wüst "maximale Transparenz" bei der Aufklärung möglicher Fehler. Es dürften aber keine Behördenmitarbeiter, die seit Jahren gerade in den Kommunen am Limit arbeiteten, für den Anschlag verantwortlich gemacht werden. Die Ursachen des Problems werde man nicht in den Ausländerbehörden lösen oder vor Ort wegverwalten können.
Neuer Erlass verschärft Regeln bei Rückführungen
Etwa zwei Wochen nach dem Anschlag verschärft die Landesregierung mit einem neuen Erlass die Pflichten der kommunalen und zentralen Ausländerbehörden bei Rückführungen abgelehnter Asylbewerber - als Reaktion auf die identifizierten Fehler. Künftig muss bei jeder gescheiterten Überstellung unmittelbar geprüft werden, ob ein zweiter Versuch unternommen werden kann.
Der Erlass verpflichtet die Leitungen der kommunalen Unterbringungseinrichtungen ausdrücklich, jede mehr als drei Tage dauernde Abwesenheit Ausreisepflichtiger unverzüglich an die ZAB zu melden. Diese Informationspflicht gilt auch, wenn die betroffenen Personen wieder auftauchen.
Sollten Betroffene länger als drei Tage abwesend sein, können sie nun von der zuständigen ZAB zur Festnahme ausgeschrieben werden. Die ZAB habe zu prüfen, ob der Ausreisepflichtige als flüchtig einzustufen sei, heißt es in dem Erlass. Falls eine zur Festnahme ausgeschriebene Person zurückkehrt, muss die Einrichtungsleitung unverzüglich die Polizei verständigen.
Der Erlass stellt außerdem klar, dass Mitarbeiter der ZAB in der Unterbringungseinrichtung Zugang zu allen Räumen haben, in denen sich Ausreisepflichtige aufhalten könnten. Für einen Zugriff sei es nicht ausreichend, lediglich das Zimmer der betroffenen Person zu betreten. Auch Gemeinschaftsräume, die Kantine oder die Zimmer weiterer untergebrachter Personen dürften betreten werden.
Nach einem gescheiterten Versuch soll bei der Zentralen Fluganmeldestelle (ZFA) nachgefragt werden, ob zwischenzeitlich ein weiterer Platz frei geworden ist. "Die ZFA wird beauftragt, ab sofort bei jeder eingegangenen Stornierung die verbleibende Überstellungsfrist zu überprüfen und umgehend einen neuen Flug zu buchen", heißt es im Erlass.
Auch gibt es nun die Möglichkeit, eine Überstellungshaft zu beantragen, sollte bereits im Vorfeld einer Überstellung das Verhalten des Betroffenen darauf schließen lassen, dass er sich einer Maßnahme entziehen könnte – beispielsweise durch regelmäßige Abwesenheiten in der Nacht.
Weitere Sicherheits- und Präventionspakete
Dieser Erlass ist aber nicht die einzige Reaktion der Landesregierung: Etwa vier Wochen nach dem Messeranschlag bringt sie zwei Initiativen zur Verschärfung der Migrations- und Sicherheitspolitik in den Bundesrat ein. Die Maßnahmen sind Teil des umfassenden Sicherheitspakets der schwarz-grünen Regierungskoalition, das kurz nach dem Anschlag eilig zusammengestellt und präsentiert worden war.
Das NRW-Paket wird im Bundesrat von Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg unterstützt. Beides sind Länder, in denen CDU und Grüne gemeinsam regieren, so wie in NRW.
Mit einer der Bundesratsinitiativen sollen die Sicherheitsbehörden bei der Terrorismusbekämpfung gestärkt werden. Unter anderem verlangt NRW dafür auch einen neuen Anlauf zur Vorratsdatenspeicherung. Dabei soll es nicht um eine massenhafte Vorratsdatenspeicherung gehen, sondern um die zeitlich befristete Speicherung von IP-Adressen.
Die zweite Initiative soll die Migrationspolitik verbessern, unter anderem durch die Beschleunigung von Asylverfahren für Herkunftsstaaten mit einer Anerkennungsquote unter fünf Prozent. Zudem will NRW über den Bundesrat unter anderem eine Verbesserung des sogenannten Dublin-Systems für die Rückführung von Asylbewerbern in andere EU-Staaten erreichen. Um die Kommunen zu entlasten, soll nach Forderung der Landesregierung der Bund künftig zentral für die sogenannten Dublin-Überstellungen zuständig sein.
Neben Maßnahmen auf Bundesebene hatte die Landesregierung im umfassenden Sicherheitspaket auch Dutzende Maßnahmen für NRW vorgelegt. Dazu gehören im Land etwa mehr Polizeibefugnisse, schärfere Abschieberegeln, die Stärkung des Verfassungsschutzes, die strengere Überwachung potenzieller Extremisten und einen besseren Datenaustausch der Behörden.
Solingen-Anschlag: Untersuchungsausschuss soll Hintergründe aufklären
Die größte Krise der schwarz-grünen Landesregierung unter Ministerpräsident Wüst ist damit aber noch lange nicht ausgestanden. SPD, CDU, Grüne und FDP haben sich Anfang Oktober auf einen gemeinsamen Antrag für einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss geeinigt. Über den Antrag soll im November im Landtag entschieden werden.
Die Hintergründe des islamistischen Terroranschlags von Solingen müssten auch parlamentarisch aufgeklärt und Lehren daraus gezogen werden, heißt es in der Mitteilung aller vier Fraktionen.
Als erste Fraktion hatte zunächst die FDP nach dem Anschlag einen Untersuchungsausschuss ins Spiel gebracht. Dann hatte die Koalition aus CDU und Grünen überraschend ebenfalls angekündigt, einen U-Ausschuss zu beantragen. Schließlich einigten sich alle Fraktionen außer der AfD, die nicht an den Beratungen beteiligt wurde. Dass auch die regierungstragenden Fraktionen einen Untersuchungsausschuss beantragen, kommt eher selten vor. Es kann als Signal dafür gewertet werden, dass schwarz-grün den Untersuchungsausschuss nicht unbedingt gegen die eigene Regierung gerichtet sieht. Vielmehr sollen alle Versäumnisse auf den Tisch kommen. Dabei steht unter anderem die Kommunikation der Kabinettsmitglieder im Fokus: Wie gut haben NRW-Innenminister Reul und Flüchtlingsministerin Paul miteinander kommuniziert? Ein Sprecher des Innenministers hat kürzlich auf Anfrage bestätigt, dass Reul seine Kabinettskollegin Paul, trotz des Rats eines ranghohen Beamten nicht sofort über die Erkenntnisse über die gescheiterte Abschiebung des mutmaßlichen Attentäters informiert hat. Reul sagt dazu, dass für ihn kurz nach der Tat angesichts des noch flüchtigen Täters und möglicher Komplizen zunächst die Gefahrensituation und die Fahndung Priorität gehabt habe. Das sei nicht der Zeitpunkt für politische Überlegungen zur Abschiebepraxis gewesen. Daher sei er dem Rat seines Polizei-Inspekteurs nicht sofort gefolgt.
Er habe sich dann aber am Sonntagmorgen nach der Tat um Kontaktaufnahme zu Paul bemüht, um ihr von der misslungenen Abschiebung zu berichten. Dem "Spiegel" sagte Reul: “Ich habe mehrfach klargemacht, dass ich über die Details des Asylstatus des Tatverdächtigen schon am Samstagabend nach der Tat Bescheid wusste. Natürlich hat diese Information eine Relevanz für Ministerin Josefine Paul gehabt, ich fand aber erst, als wir den Täter gefasst hatten.”
Autor: Jose Narciandi